Vom Anschluss zur Augenhöhe – Ein persönlicher Rückblick | Aktuelle Nachrichten und Informationen

09. November 2025

Vom Anschluss zur Augenhöhe – Ein persönlicher Rückblick

Liebe Schwanheiderinnen und Schwanheider,

Liebe Zweedorferinnen und Zweedorfer,

Moin alle zusammen!

Heute jährt sich die Grenzöffnung zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland zum 35. Mal. Der 9. November 1989 war kein Tag der Wiedervereinigung, wie es das politische Narrativ nennt – es war ein Anschluss. Ein historisch notwendiger Anschluss, das sei mir wichtig zu betonen. Doch dieser sprachliche Unterschied verrät bereits eine tiefe Wahrheit: Die beiden deutschen Staaten wuchsen nicht auf Augenhöhe zusammen, sondern nach einem asymmetrischen Muster. Der Westen gab die Spielregeln vor, der Osten musste sich an diese anpassen. Dort liegt die Herausforderung, die bis heute nachwirkt – auch bei mir ganz persönlich.

Zwischen Osten und Westen aufwachsen

Ich bin 1979 in Rostock geboren. Meine frühe Kindheit war geprägt von der Nivelliertheit und Gemeinschaftlichkeit der DDR-Gesellschaft – einer Gesellschaft, die bei allem, was man kritisieren kann, nicht auf vertikale Ungleichheit ausgerichtet war. Der Staat sorgte für funktionierende Gemeinschaften. Es gab umfassende Betreuungsstrukturen, kulturelle Angebote für alle, Bildungsmöglichkeiten, die damals vorbildlich waren. Das war meine Realität, und diese Realität war real. Sie war nicht minderwertig, sie bestand nicht nur aus Diktatur-Erfahrung. Sie war Leben.

Mit dem Mauerfall kam für meine Familie der Umbruch. Anfang der 1990er Jahre zogen meine Eltern und ich nach Mölln in Schleswig-Holstein. Ich wechselte die Schule, lernte dort einen handwerklichen Beruf – und ich lernte den Westen kennen. Ich bin somit nicht nur Ostdeutscher, sondern auch Westdeutscher. Ich trage beide Erfahrungen in mir, und ja, diese Zwiespältigkeit ist bis heute präsent. Das ist keine Schwäche, das ist gelebte Erfahrung des deutschen Transformationsprozesses.

Später kehrte ich mit meiner Frau, die gebürtig aus Schwerin stammt, nach Mecklenburg zurück. Wir wählten Schwanheide als unseren Heimatort. Und genau hier machte ich eine Beobachtung, die der Soziologe Steffen Mau in seinen Arbeiten eindrucksvoll beschreibt: eine erlebte, unterschwellige Skepsis gegenüber Ostdeutschen – oder anders ausgedrückt: eine subtile Abwertung, die wenig mit rationalen Gründen zu tun hat. Aber sie wird sehr verbreitet so wahrgenommen. Es war erst meine proaktive Äußerung – "Ich bin gebürtiger Rostocker, meine Frau kommt aus Schwerin" – die wie ein Türöffner wirkte in der Gemeinde. Zuvor: Sperrgebiet-Mentalität, auch wenn die historischen Gründe längst nicht mehr relevant sind. Diese gegenseitigen Vorbehalte (West über Ost / Ost über West) sind nicht verschwunden. Bei jüngeren Generationen zeigen sie sich sogar ausgeprägter, obwohl diese die DDR gar nicht mehr erlebt haben. Das deutet darauf hin: Es geht nicht primär um die DDR als solche, es geht um strukturelle Muster, um eine kulturelle Ordnung.

Die Narbe der Transformation

Meine Mutter war Krippenerzieherin in der DDR. Sie war hochqualifiziert, ihr Beruf war gesellschaftlich anerkannt, sie war Teil eines Werktätigen-Kollektivs. Mit der Wende veränderte sich alles: Dieser Beruf, die ganze Struktur rund um Kindsein und Betreuung, wurde in marktwirtschaftliche Kategorien umgewandelt. Meine Mutter musste sich neu orientieren und arbeitete schließlich an der Kasse in einem Discounter. Ein Abstieg, objektiv messbar und subjektiv bedeutsam. Das hat etwas mit Menschen gemacht – nicht nur wirtschaftlich, sondern auch identitär. Der Soziologe Steffen Mau nennt das "soziokulturelle Entwertung".

Das Paradoxe ist: Es war politisch notwendig, dass dieser Transformationsprozess so ablief. Niemand hätte ihn anders gestalten können; die politischen Rahmenbedingungen waren gegeben. Aber diese Realität heilt die damit verbundenen Brüche nicht automatisch. Die Narbe bleibt. Sie wird berührt, wenn die Erzählung so einseitig lautet: "Die Menschen haben in einer Diktatur gelebt." Das ist faktisch richtig. Aber es ist eine Verkürzung, die den Menschen ihre Lebensgeschichten nicht angemessen würdigt. Es ist eine unvollständige Diagnose, wenn wir etwas wirklich verstehen und heilen wollen.

Was es braucht

Mich bewegt die Frage: Wie kann es gelingen, die ganze Geschichte zu erzählen? Die Gemeinschaften des Ostens, die Kulturangebote, die Chancengleichheit im Bildungsbereich – dies auszublenden und nur noch von Diktatur zu sprechen, bedeutet, Menschen einen Teil ihrer Lebensleistung abzusprechen. Das ist nicht Ostalgie, das ist eine Frage von Würde.

Bei der medialen Berichterstattung zum Tag der Deutschen Einheit erleben wir oft Ostalgisches: ein DDR-Lied hier, ein Traditionsblick auf Grilletta und Ketwurst dort. Doch echte Begegnung sieht anders aus. Sie fragt: Was haben junge Menschen in der DDR erlebt, gelernt, an Sicherheit gefunden? Und wie unterschied sich das von den Erfahrungen ihrer westlichen Altersgenossen? Das wäre gegenseitige Anerkennung statt Zuschaustellung.

Der Soziologe Steffen Mau arbeitet seit Jahren an dieser Frage: Wie können wir auf Augenhöhe miteinander sprechen? Nicht Oben-Unten, nicht West-Ost als Hierarchie, sondern als Gesamtgesellschaft mit unterschiedlichen, gleichberechtigten Erfahrungen.

Wenn die große Bundespolitik es aussprechen würde – "Die Menschen in Ostdeutschland haben lebenswerte Vergangenheiten. Sie sind gleichberechtigte Teile unseres Landes. Ihre Erfahrungen sind nicht weniger wert" – dann wäre ein wichtiger Schritt getan. Dann könnte die Aufarbeitung beginnen, die heute vielen noch fehlt.

Eine Aufgabe für uns alle

Die asymmetrische Vereinigung ist Realität geworden. Der Osten wurde nach westlichen Vorbildern rekonfiguriert – das war in der damaligen Situation der einzig gangbare Weg. Doch die strukturellen Folgen dieser Asymmetrie – die kulturelle Neubewertung, die demografischen Verschiebungen, die beruflichen Umorientierungen, die Erosion vertrauter Strukturen – diese sind nicht automatisch aufgelöst. Sie sind Narben, und Narben brauchen Anerkennung, nicht Vertuschung.

Was mich besonders bewegt, ist die Situation der Nachkommen der Wendegeneration. Sie haben die DDR nicht selbst erlebt, tragen aber ihre Nachwirkungen in sich. Sie erleben diese Vorbehalte oft noch intensiver als die Generation, die tatsächliche Brüche konkret benennen kann. Das zeigt: Diese Prozesse sind nicht abgeschlossen, sondern wirken fort.

Als Bürgermeister einer Gemeinde, die einst Sperrgebiet war, kann ich sagen: Wir müssen Wege finden, diese Geschichte gemeinsam zu tragen. Wir brauchen Erzählungen, die nicht einseitig sind – die weder DDR-Unrecht relativieren noch die Lebenswirklichkeit der Menschen ausblendet. Das ist Vollständigkeit. Das ist Würde für alle, die hier leben.

Versöhnung durch gegenseitige Reflexion

Heute Nachmittag nehme ich an einem Festakt teil – gemeinsam mit Bürgermeister Rico Reichelt aus Boizenburg und den Ministerpräsidenten Daniel Günther aus Schleswig-Holstein sowie Manuela Schwesig aus Mecklenburg-Vorpommern. Der Höhepunkt wird eine Anschlussveranstaltung sein, in der jeder Musik aus seiner persönlichen Vergangenheit auflegt.

Das ist gelebte Praxis. Das ist nicht Ostalgie, nicht die einseitige Zuschaustellung eines Ostens. Das ist die Erkenntnis, dass es zwei getrennte Welten gab – eine westdeutsche und eine ostdeutsche – und dass beide in den Menschen weiterleben. Ich werde aufgrund meiner Doppelgeschichte Ost-West beide Seiten zeigen: Silly mit "So eine kleine Frau" oder City mit „Wand an Wand“ und die kritischen, schon voraussagenden) Texte von Tamara Danz neben R.E.M. und Nirvana – die Bands meiner Jugend, die mich im Westen begleitet haben. Und genauso werden es die anderen gelebt haben, jeder mit seiner eigenen Geschichte.

Darin liegt die Versöhnung: beide Seiten zu reflektieren. Nicht die eine gegen die andere auszuspielen, sondern zu zeigen, dass Menschen in beiden Deutschlands gelebt, geliebt, geträumt, gehört haben – zu ihrer Zeit, in ihrer Welt. Das ist Würdigung. Das ist echte Begegnung.

Das ist der Weg zu echter Einheit: Nicht durch Angleichung, sondern durch gegenseitige Anerkennung. Nicht durch Hierarchien, sondern durch Augenhöhe. Nicht durch einseitige Geschichtsdeutung, sondern durch Offenheit füreinander.

Zum heutigen Jahrestag sage ich: Wir haben 35 Jahre Zeit gehabt zu lernen, dass eine bloße asymmetrische Vereinigung nicht ausreicht. Jetzt kann echte Begegnung beginnen. Sie beginnt in solchen Momenten – wenn Menschen ihre Musik teilen, ihre Geschichten erzählen und verstehen, dass das Leben auf beiden Seiten der Mauer lebenswert war.

Beruflich leite ich heute einen öffentlich-rechtlichen Betrieb mit ca. 400 Angestellten. Hier geben wir das #miteinander als obersten Wert der Unternehmensleitung vor - und es gelingt uns ausgezeichnet, diesen Wert zu leben. Genau das wünsche ich mir auch für die gesamte deutsche Gesellschaft.

Herzliche Grüße -

insbesondere in unsere beiden Ortsteil!

Martin von Holten, Bürgermeister

Gemeinde.Schwanheide@BoizenburgLand.de